

Baseline finden & erweitern
Es ist entscheidend, den Push-Crash-Zyklus zu stoppen und eine Baseline zu finden, von wo aus du immer weiter aufbauen, resp. dich den Triggern mit der Zeit immer stärker aussetzen kannst.
Dabei ist es aber insbesondere zu Beginn absolut entscheidend, dass du sehr behutsam vorgehst, weil du sonst Gefahr läufst, massive Rückschritte in deiner Genesung zu erleben!
Was ist eine Baseline?
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Die Baseline beschreibt das Ausmass an Aktivitäten, welche du tun kannst, ohne dich danach deutlich schlechter zu fühlen.
Die zentralen Trigger bei CFS sind körperliche, kognitive oder emotionale Belastungen. Wer sich zu stark belastet, provoziert negative Folgeerscheinungen im Körper, welche sich als sogenannte Post-Exertional Malaise (PEM) bzw. einem Crash äussern. Obwohl auch mentale Aspekte in die Auslösung von PEM involviert sind, liegen die Gründe hauptsächlich in körperlichen Fehlanpassungen. Diese sind noch nicht abschliessend verstanden, sind jedoch vielfältig (z.B. erhöhte sympathische Modulation, Stoffwechselstörungen, Fehlfunktion der Mitochondrien, immunologische Anomalien, mangelnde Sauerstoffversorgung im Gewebe, etc.).
Weitere Trigger können im Krankheitsverlauf dazukommen (z.B. Licht, Geräusche, Nahrungsmittel, u.a.). Immer wenn diese Trigger stärker sind als deine aktuelle Toleranzschwelle, d.h. wenn sie über deine aktuelle Baseline hinausgehen, interpretiert dein hypersensitives Gehirn dies als Gefahr und meldet es dir mit Symptomen.
Wenn du deine Baseline erweiterst, verschiebst du diese Schwelle immer weiter nach oben. Damit dies geschehen kann, brauchst du allerdings immer wieder ein gewisses Ausmass an Symptomen, damit sich dein Nervensystem neu "kalibrieren" kann. Symptome sind in diesem Prozess deshalb unausweichlich und nicht per se etwas Negatives - solange sie dich mental nicht überfordern.
Es geht also nicht darum, so wenig zu machen, dass du gar keine Symptome mehr hast – das ist sowieso meist nicht machbar.
Was wir vermeiden wollen sind die Push-Crash-Zyklen. Hier wechselst du zwischen zwei Phasen: zuerst machst du deutlich zu viel und landest in einem Crash, welcher deine Kapazität für Tage oder Wochen massiv reduziert. Sobald es dir besser geht, überforderst du dich erneut weit über deine Baseline hinaus – und der Kreislauf beginnt von vorne.
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Baseline ist übrigens keine exakt bestimmbare Grösse, sondern ein Kontinuum. Am unteren Ende machst du zu wenig und es geht es dir langfristig schlechter, weil du körperlich immer mehr abbaust. Am oberen Ende - wenn du (deutlich) zu viel machst - kommst du in einen Crash. Dein Ziel ist deshalb, dich so gut wie möglich innerhalb dieses Kontinuums zu bewegen, wo du weder zu wenig noch zu viel machst. Analoges gilt für weitere Trigger.
Erschwerend kommt ledier hinzu, dass deine Baseline nicht jeden Tag gleich ist, sondern vielmehr abhängig von vielen Faktoren ist, wie zum Beispiel:
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Wie gut hast du geschlafen?
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Hast du die letzten Tage Aktivitäten unternommen, die bereits leicht über deiner Baseline lagen?
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Wie angespannt ist dein Nervensystem zurzeit?
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Wie ist deine mentale Verfassung?
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Hattest du ausreichend Ruhephasen oder stehst du unter starkem Stress?
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Hattest du kürzlich einen Infekt?
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Wo stehst du in deinem Monatszyklus?
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All dies kann deine Baseline beeinflussen und damit das Aktivitätslevel, welches du an einem bestimmten Tag erreichen kannst. Entsprechend solltest du kein striktes Programm absolvieren - sondern deine Aktivitäten den Umständen entsprechend flexibel gestalten.
Stell dir deine Baseline nicht als harte, gefährliche Grenze vor! Deine Baseline ist eher wie ein Gummiband, das du spannen darfst, aber möglichst nicht zerreissen willst. Je besser es dir geht, umso elastischer wird es und umso mehr kannst du experimentieren, was es aushalten kann. Sieh deine Baseline als Geschenk an dich selber an, indem du gut zu dir schaust und dich nicht überlastest, aber auch nicht ängstlich bist. Denn solltest du das Gummiband doch einmal zerreissen, bekommst du immer wieder ein neues geschenkt.
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Je mehr du deine Baseline erweiterst (d.h. je mehr Stressoren/Stimuli du wieder bewältigen kannst), desto mehr werden deine Symptome zurückgehen - nicht umgekehrt!
Warte also nicht, bis es dir besser geht. Gerade die Erschöpfung ist oft eines der letzten Symptome, welches verschwindet. Handle jetzt, um dich später besser zu fühlen.
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Wie finde ich meine Baseline?
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Kurze Antwort: Indem du deinen Körper immer besser kennen und deiner Intuition vertrauen lernst. Einige Patient:innen arbeiten mit Pulstrackern oder HRV-Messgeräten, welche eine Unterstützung sein können (mehr dazu hier). So oder so ist es ein frustrierender Prozess von Versuch und Irrtum. Lass dich dabei aber nicht entmutigen: entweder du kommst vorwärts oder du lernst.
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Die grösste Herausforderung besteht darin, dass sich eine Zunahme der Symptome oft mit einer Verzögerung von einigen Stunden oder sogar bis zu drei Tagen später bemerkbar macht. Bei der Suche nach deiner Baseline lohnt es sich deshalb, das Gummiband nicht zu stark zu spannen und Routinen zu finden, bei denen du jeden Tag mehr oder weniger das Gleiche tust. Eine gute Faustregel ist zu Beginn, 50 % dessen zu tun, was du denkst, was möglich ist. So stellst du sicher, dass der Anstieg der Symptome nicht plötzlich wieder zu stark wird. Weniger ist also mehr - aber nur am Anfang bis du deine erste stabile Baseline gefunden hast.​
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Viele Patient:innen berichten, dass es ihnen in diesem Experimentierprozess hilft, alle Aktivitäten über 2-3 Wochen detailliert zu protokollieren, um herauszufinden, was sie über ihre Grenzen bringt. Dabei ist es wichtig, sowohl die körperlichen als auch die kognitiven und emotionalen Belastungen aufzuzeichnen. Denn oft sind es gar nicht die körperlichen Belastungen, die uns am meisten zu schaffen machen.
Und noch einmal: Es geht nicht darum, Symptome vollständig zu vermeiden. Du hast deine momentane Baseline gefunden, wenn du deine Aktivitäten so anpasst, dass es dir über einen gewissen Zeitraum (am Anfang idealerweise 24h) nicht SCHLECHTER geht als vorher. Je gesünder du wirst, desto länger darf dieser Zyklus werden.​
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Wenn du nur mild von CFS betroffen bist, ist es übrigens nicht unbedingt einfacher deine Baseline zu finden, weil du viel mehr Variablen managen musst. Dieser erste Schritt wird für dich eine echte Herausforderung sein, die du nicht auf die leichte Schulter nehmen solltest. Dafür wird es für dich anschliessend einfacher sein, deine Baseline zu erweitern.
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Wie erweitere ich meine Baseline?
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Nachdem du eine erste stabile Baseline gefunden hast, geht es darum, diese zu erweitern. Hier kommt das allseits bekannte Pacing ins Spiel. Allerdings nicht so, wie es bislang meistens praktiziert wird. Wir unterscheiden zwei Arten von Pacing:
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PACING, UM MIT CFS ZU LEBEN​
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Eine Baseline finden, aber nicht versuchen, darüber hinauszugehen.
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PEM (= Post Exertional Malaise / Crash) um jeden Preis vermeiden.
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Mindset: "PEM ist gefährlich und kann den Zustand dauerhaft verschlechtern."
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Angst und strikte Regeln bestimmen den Alltag.
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PACING, UM CFS ZU ÜBERWINDEN
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Eine Baseline finden, sie stabilisieren und dann bewusst darüber hinausgehen.
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Push-Crash-Zyklen vermeiden, aber leichte PEM zulassen.
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Mindset: „PEM ist der Weg zu einer höheren Baseline.“
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Zuversicht, Wissen-was-abläuft und weiche Handlungsempfehlungen bestimmen den Alltag.
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Das erste Pacing ist nicht hilfreich, weil es die bestehenden Konditionierungen im Gehirn verstärkt. Welches Signal sendest du unbewusst ans Gehirn, wenn du ständig Angst davor hast, zu viel zu tun und deine Trigger immer stärker meidest? Gefahr! Genau dies wollen wir aber vermeiden.
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Die bessere Art des Pacing ist deshalb die zweite. Hier ist nicht die Angst das dominierende Gefühl. Wer Pacing betreibt, um CFS zu überwinden, hat das nötige Wissen darüber, was im Körper eines CFS-Betroffenen vor sich geht. Er weiss, dass Symptome/PEM der Weg aus der Krankheit sind. Wir müssen also so gut wie möglich mit den Symptomen umgehen, aber keine Angst vor ihnen haben!
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Eine gute Analogie dazu ist folgende: Wenn ein Bodybuilder versucht, 10kg Muskelmasse zuzulegen, ist ihm klar, dass er auf dem Weg dorthin ab und zu Muskelkater haben wird. Er wird versuchen, Übertraining zu vermeiden, weil ihn dies zurückwirft. Er wird sich aber trotzdem nicht vor Muskelkater fürchten. Wenn er dann auftritt, wird er ihn gelassen akzeptieren und vielleicht sogar darüber lachen, wenn er deswegen kaum mehr von der Toilette aufstehen kann...
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Bei CFS ist es genau gleich. Das Übertraining des Bodybuilders sind unsere Crashes, welche wir zu vermeiden versuchen. Der Muskelkater ist unsere PEM. Diese brauchen wir nicht zu fürchten, denn sie ist nur eine Anpassungsphase des Körpers resp. unseres Nervensystems. Wir müssen aber lernen, gelassen mit ihr umzugehen. Wie dies gelingt, erklären wir hier.
​Die Baseline erweitern kannst du nur, wenn du Symptome in Kauf nimmst. Wichtig ist, dass du sie durch richtiges Pacing nicht so stark werden lässt, dass du in Panik gerätst und den CFS-Teufelskreis wieder befeuerst.
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​​Nachfolgend erklären wir dir die sechs wichtigsten Regeln zur Erweiterung deiner Baseline resp. dem Pacing, um CFS zu überwinden:
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Erste Regel: Steigere dich langsam und schrittweise
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Um dein Nervensystem an den Ausbau der Baseline zu gewöhnen ist es wichtig, dass du inkrementell vorgehst - also in kleinen Schritten.
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Oft hilft es, wenn du dir den Ausbau deiner Baseline zuerst nur visualisierst. Versuche dir dazu eine neue Aktivität so intensiv wie möglich vorzustellen, aber immer mit positivem Ausgang:
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Visualisiere, wie sich dein Körper während der Aktivität grossartig fühlt.
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Was siehst, hörst, riechst, spürst du dabei?
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Stell dir vor, wie du dich danach gut fühlst, wie stolz du bist, dass du das geschafft hast.
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Vermittle deinem Gehirn so viele Sicherheitssignale im Zusammenhang mit dieser Aktivität wie möglich und involviere alle Sinne.
Wiederhole dies über mehrere Tage und beginne erst danach, die Aktivität vorsichtig auch umzusetzen. Sobald du dies ohne massive Symptomsteigerung tun kannst, visualisiere zuerst die Steigerung der Aktivität und gehe erst an die Umsetzung, sobald du dich mental bereit dazu fühlst.
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Um dich nicht zu überfordern, ist es empfehlenswert, dass du bei einer Belastungssteigerung immer nur einer der folgenden Aspekte veränderst: Dauer, Häufigkeit oder Intensität. Ein Beispiel: Wenn es deiner Baseline entspricht, jeden zweiten Tag 20 Minuten zu spazieren, kannst du als Nächstes versuchen, die Dauer zu verlängern, täglich zu spazieren oder schneller zu gehen.
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Ebenfalls ist ein ausgewogenes Verhältnis von kognitiver und körperlicher Belastungssteigerung für die meisten Betroffenen empfehlenswert, um ihren Fortschritt zu optimieren. ​Dies gilt insbesondere dann, wenn du in deiner Genesung stagnierst. Dann ist es sinnvoll zu prüfen, ob du vielleicht kognitiv zu viel machst und körperlich zu wenig oder umgekehrt. Erfahrungsgemäss kann dies deinem weiteren Fortschritt kräftigen Schub verleihen.
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Zweite Regel: Kontinuität vor Intensität!
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Es ist wichtiger, dass du es schaffst, neue Aktivitäten kontinuierlich zu wiederholen, als dass diese zu schnell zu intensiv werden und dich ein anschliessender Crash zurückwirft. Warte besser, bis du von einer Erweiterung deiner Baseline "angezogen" wirst und dein Körper dir sagt, dass es Zeit dafür ist, statt sie mit deinem Willen erzwingen zu wollen.
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In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, tägliche und wöchentliche Routinen zu entwickeln. Finde heraus, was du täglich tun kannst (z.B. Körperpflege) und wo du eine gewisse Regelmässigkeit innerhalb einer Woche installieren kannst (z.B. Walking). So gelingt es dir besser, deine Baseline zu finden, zu stabilisieren und dann zu erweitern.
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Dritte Regel: Wechsle Expansion mit Kontraktion ab!
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Dies gilt im Kleinen wie im Grossen. Innerhalb eines Tages solltest du Aktivitäten in ein Sandwich aus echter Erholung packen, wo du dein Nervensystem beruhigst. Tipps dafür findest du in den Tools (Atmung, Erholung, Nervensystem). Durch Social Media scrollen gehört übrigens nicht dazu. ;-).
Für die mittleren Zeiträume (Tage & Wochen) bedeutet dies, nicht den Anspruch zu haben, dass du dich kontinuierlich steigern kannst. Denn es wird immer wieder Anpassungsphasen (PEM) geben, wo du mehr Symptome spürst. In diesen Phasen, in denen sich dein Nervensystem neu „kalibriert“, musst du unbedingt kürzer treten und dich erholen.
Wenn immer möglich solltest du es aber vermeiden, gar nichts mehr zu tun! Sonst verstärkst du lediglich die negativen Konditionierungen in deinem Gehirn. Mach einfach (deutlich) weniger! Aber selbstverständlich: wenn dein Körper dir sagt, du sollst den ganzen Tag im Bett bleiben, dann mach das. Aber lass dich nicht von der Angst leiten, so dass diese Phase länger dauert als nötig.
Über lange Zeiträume (Monate), wirst du vielleicht feststellen, dass du dich auf einmal nicht weiter steigern kannst oder deine Kapazität temporär sogar abnimmt (Erhaltungsphasen). Hier gilt es, die sechste Regel zu verinnerlichen.
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Vierte Regel: Do not push!
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Etwas vom Wichtigsten in deinem Genesungsprozess ist die Selbstfürsorge. Das bedeutet, dass du dich immer wieder fragst: Was tut mir gut? Was braucht mein Körper jetzt? Handle danach und sei gütig zu dir selber.
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Lass dich nicht von ehrgeizigen Leistungszielen antreiben, sondern höre auf deinen Körper. Lerne Dinge unfertig zu lassen und höre auf, wenn dein Körper dir sagt, dass es genug ist (z.B. durch ein angespanntes Nervensystem, stark ansteigende Symptome, innere Unruhe, etc.). "Nur noch schnell..." ist Gift für deine Genesung.
Es ist dein Nervensystem, welches das Tempo vorgibt und nicht dein Ego. ​Da viele CFS-Betroffene sogenannte "Achiever-Typen" sind, welche es gewohnt waren, Leistung zu erbringen und Erfolg zu haben, fällt dies vielen sehr schwer. Wenn du auch dazu gehörst, solltest du deinen inneren Antreiber oder deinen inneren Perfektionisten dazu bringen, deine Genesung als oberste Priorität zu sehen und alle anderen Leistungsziele zurückzustellen. So wirst du am Ende schneller vorwärts kommen, als wenn dich dein Körper immer wieder durch Crashes zur Ruhe zwingen muss.
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Mach nie mehr als du kannst und setz dich nicht unter Druck, mehr zu tun!
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Dies gesagt, ist das andere Extrem ebenfalls nicht gut. Wenn du dich aus Angst vor Aktivitäten und möglichen Symptomen zu stark schonst, ist es ebenfalls schwer, CFS zu überwinden.
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Das, was du tun KANNST, das MUSST du tun, um vorwärts zu kommen.
Mit etwas Übung und Vertrauen kann es sogar möglich werden, sich leicht zu pushen. Dies aber nur, wenn man es ohne Angst vor Symptomen tun kann und man locker bleibt, wenn sie trotzdem kommen. In diesem Fall erhält das Gehirn die Möglichkeit, eine wertvolle Korrekturerfahrung zu machen.
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Fünfte Regel: WIE ist wichtiger als WAS
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Der mentale Zustand vor, während und nach einer Aktivität hat einen grösseren Einfluss auf das Ausmass der PEM als die Aktivität selbst. Aus diesem Grund hilft es vielen Betroffenen, vor und/oder nach einer erhöhten Belastung ein Braintraining durchzuführen, um die mit der Belastung verbundenen Ängste und Konditionierungen zu reduzieren.
Der Schlüssel liegt also in der Art und Weise wie man etwas tut. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob du nur darauf wartest, dass sich deine Symptome verschlimmern, oder ob du eine Aktivität aus einem Gefühl der Freude oder Dankbarkeit heraus tust und sie als positive Herausforderung siehst.
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Nehmen wir das Beispiel eines Patienten: Seine Baseline war 2 km Walking pro Tag. Sobald er 100m weiter ging, nahmen seine Symptome zu. Das hatte viel damit zu tun, dass er während des Walkens ganz auf seinen inneren Zustand konzentriert war und sein Gehirn sofort Alarm schlug, wenn er seine Komfortzone verliess. Als derselbe Patient dann begann, 15 Minuten leichtes Tennis zu spielen, konnte er trotz anfänglicher Angst vor einem Crash viel schneller Fortschritte machen, weil er seinen Fokus vom Körpergefühl auf das Spiel und die Freude, auf dem Platz zu stehen, verlagern konnte.
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Sechste Regel: Genesung ist nie linear!
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Wir möchten alle, dass sich unsere Baseline und damit unsere Kapazität wie eine gerade Linie steil nach oben bewegt. So ist es aber nie! Es gibt Wochen und Monate, wo du gute Fortschritte machst. Dann kommt vielleicht eine Grippe oder ein anderes ungeplantes Ereignis, welches dich zurück wirft. Manchmal erscheint ein Crash sogar völlig zufällig und wie aus dem Nichts zu kommen. Beides ist normal und gehört dazu. Wichtig ist in diesen Fällen, nicht aufzugeben und dort weiterzumachen, wo du zu diesem Zeitpunkt stehst - selbst wenn dies bedeutet, immer mal wieder einige Stufen weiter unten anzusetzen.
Das ist zwar ein grosser Frust und verlangt viel Akzeptanz. Die gute Nachricht ist aber, dass Rückschläge mit der Zeit kürzer werden und du schneller wieder zum Ausgangsniveau zurückfindest als zu Beginn deiner Genesung. Ebenso ist es tröstlich zu wissen, dass Fortschritte am Anfang manchmal quälend langsam geschehen, mit der Zeit aber immer schneller.​
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Wie stark darf ich mich belasten?
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Die relative Entwicklung deiner Symptome sind der Gradmesser für deine Belastung. Gleichbleibende oder leicht stärkere Symptome darfst du ignorieren. Sie verlangen keine Verhaltensänderung, solange du mental gut mit den Symptomen umgehen kannst. Bei einer mittleren Zunahme der Symptome solltest du weniger tun als gewohnt, deinen Tag aber trotzdem nicht den Symptomen unterordnen. Erst wenn die Zunahme sehr stark wird (Crash) ist es sinnvoll, dich zu schonen und dich vollständig auf deine Erholung zu konzentrieren.
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Als Unterstützung, wie stark zu dich belasten darfst, kann dir auch das Konzept der "Rate of Perceived Exertion" RPE dienen. Die RPE bestimmt den Grad der persönlich wahrgenommenen Anstrengung von 0 bis 10, wobei 10 die höchstmögliche Anstrengung bedeutet. Naturgemäss ist die RPE individuell sehr unterschiedlich. Sich die Zähne zu putzen kann für jemanden mit milder Ausprägung eine 0 bedeuten, für schwer Betroffene von CFS jedoch bereits eine 10. Die RPE ist also ein relatives und kein absolutes Mass.
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Erfahrungsgemäss gibt es drei Stufen des Genesungsprozesses. Diese Stufen sind nicht als allgemeingültige Regel, sondern nur als Leitplanke zu verstehen. Die Übergänge sind fliessend und es ist durchaus möglich, dass man zwischen den Stufen hin und her wechseln muss (z.B. nach einem Crash oder einer Grippe, etc.):
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Stufe 1: Stabilisierung (Baseline finden)
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Anzustrebende maximale RPE: 1-3
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Aufbau von funktionierenden Routinen ist oberstes Ziel
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Fokus auf Erholung und alles, was Energie gibt (Energy-in)
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Für Aktivitäten gilt: weniger ist mehr - aber nur am Anfang!
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Mach entsprechend zuerst 50% weniger als du denkst, dass du könntest
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Stufe 2: Rekonditionierung (Baseline ausbauen)
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Anzustrebende maximale RPE: 4-6
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Langsamer, angemessener Aufbau von Kraft und Ausdauer
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Abwechslung von Aktivitäten/Triggerexposition und Erholungsphasen
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Verhindern, dass man aus Angst vor PEM zu wenig macht
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Stufe 3: Reintegration ins normale Leben
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Anzustrebende maximale RPE: 7-10
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Vorsichtiges Überschreiten der anaeroben Schwelle
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Annäherung an frühere Belastungen (Arbeit, Freizeit, Training)
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Hier sind Symptome meist nur noch eine „gelernte“ Reaktion des Gehirns - ohne zugrundeliegende körperliche Schwäche (Dekonditionierung)
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Bewährte Tools nicht zu früh beenden, um Genesung nicht zu gefährden
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Persönliche Transformation, um Gesundheit langfristig aufrecht zu erhalten
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Die Angaben der RPE sind natürlich nicht so zu verstehen, dass man sich ständig auf diesem Niveau belasten soll. Es handelt sich vielmehr um eine Obergrenze, die pro Stufe möglichst nicht überschritten werden sollte.
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Pacing ist schrecklich, kein Pacing ebenfalls!
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Dies ist vielleicht unser wichtigster Tipp: Pacing sollte man einfach tun - möglichst intuitiv und ohne ständig darüber nachzudenken. Versuche, dein Belastungsniveau gemäss den hier beschriebenen Regeln zu steuern, aber fixiere dich nicht verbissen darauf.
Das bedeutet auch, dass du zwar immer wieder mal bewusst in dich hineinhörst, wie es dir geht (so wie dies gesunde Menschen auch tun), aber nicht permanent deinen Körper scannst, ob Symptome kommen.
Sobald du wieder kurze Trainings absolvieren kannst, ist es beispielsweise empfehlenswert, Dinge zu tun, welche dir wirklich Freude bereiten und nicht einfach ein Pflichtprogramm zu absolvieren. Auf diese Weise wird es dir viel leichter fallen, nicht aus einem Gefühl der Angst zu pacen (was oft mit ständigem Bodyscannimg verbunden ist), sondern mit Vertrauen und einem Fokus auf den Nutzen der Bewegung für deine Genesung. So steht die Freude darüber, was du kannst, über der Angst davor, was du noch nicht solltest - selbst wenn du mal zu weit über deine Baseline hinausgehst.
Auch beim Pacing geht es nicht darum, perfekt zu sein. Du wirst nicht alles bis ins kleinste Detail planen und kontrollieren können. Die beste Routine wird nicht verhindern, dass dein Leben einfach passiert und dich manchmal wie eine Dampfwalze überrollt.​
Viel wichtiger ist es dann, mit den Symptomen oder gar einem Crash richtig umzugehen. Denn in jenen Momenten, in denen es dir am schlechtesten gehen wird, kannst du den grössten Unterschied für dein Gehirn machen. Wie das geht, erfährst du hier.
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Es spielt übrigens keine Rolle, wie schwer oder wie lange du von CFS betroffen bist. Beginne dort, wo du im Moment bist. Die Regeln, die hier vorgestellt werden, sind immer die gleichen - egal, ob du zweimal am Tag im Bett aufsitzen oder zwei Kilometer rennen kannst. Der Schlüssel ist, anzufangen und dranzubleiben - egal was passiert.
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Häufige Fragen
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Was ist Somatic Tracking?Hier geht es darum, dass du blablabla. Und auch sososo.